DIE GABE DER DRACHEN
Die Wochen
vor der Blutschwur-Feier waren für Eragon die schönste und
gleichzeitig schwerste Zeit seit seiner Ankunft in Ellesméra. Sein
Rücken plagte ihn mehr denn je, was sein Wohlbefinden und seine
Kraft schmälerte und ihm die Ruhe raubte. Er lebte in ständiger
Furcht vor einem neuen Schmerzanfall. Andererseits waren er und
Saphira sich näher als je zuvor. Sie verbrachten genauso viel Zeit
im Geiste des anderen wie im eigenen. Und hin und wieder holte Arya
sie im Baumhaus ab und ging mit ihnen spazieren. Allerdings kam sie
nie allein, sondern immer in Begleitung von Orik oder der Werkatze
Maud.
Bei diesen Spaziergängen stellte Arya Eragon
und Saphira einigen der berühmtesten Elfen in ganz Du Weldenvarden
vor, großen Kriegern, Poeten und Künstlern. Sie nahm sie zu
Konzerten in Islanzadis prachtvoller Kiefernhalle mit und zeigte
ihnen die vielen verborgenen Wunder der Waldstadt.
Eragon nutzte jede Gelegenheit, um mit Arya
zu reden. Er erzählte ihr von seiner Kindheit im Palancar-Tal, von
Roran, Garrow und seiner Tante Marian, von Sloan, Ethlbert und den
anderen Dorfbewohnern, von den Bergen, die Carvahall umgaben, und
vom funkelnden Sternenmeer, das den winterlichen Nachthimmel
zierte. Er erzählte, wie einmal eine Füchsin in Gedrics
Gerbebottich gefallen war und mit einem Netz herausgefischt werden
musste, wie viel Spaß ihm die Aussaat gemacht hatte und wie schön
es gewesen war, die ersten, zarten grünen Sprossen wachsen zu sehen
- er wusste, dass gerade Arya diese Freude gut nachempfinden
konnte.
Seinerseits bekam Eragon neue Einblicke in
das Leben der Elfe. Er erfuhr von Aryas Kindheit, von ihren
Freunden und ihrer Familie und von ihren Erlebnissen bei den
Varden, über die sie ganz offen sprach. Sie erzählte von Angriffen
und Schlachten, in denen sie gekämpft, von Verträgen, die sie
ausgehandelt hatte, von ihren Disputen mit den Zwergen und von
bedeutsamen Ereignissen, die sie während ihrer Zeit als
Botschafterin aus nächster Nähe miterlebt hatte.
Wenn er mit ihr und Saphira zusammen war,
fühlte Eragon sich entspannt und ausgeglichen, doch dieser Zustand
war nicht von Dauer, denn schon das kleinste Zucken im Rücken
konnte ihn wieder aus dem Gleichgewicht bringen. Die Zeit selbst
war sein Feind, denn Arya würde Du Weldenvarden nach der
Blutschwur-Zeremonie verlassen. Darum genoss Eragon jeden Moment
mit ihr in vollen Zügen und sah dem Tag ihrer Abreise mit Furcht
entgegen.
Die ganze Stadt flirrte vor Geschäftigkeit,
während die Elfen den Agaetí
Blödhren vorbereiteten. Eragon hatte sie noch nie so
aufgeregt gesehen. Sie dekorierten den Wald mit bunten Girlanden
und Lichtern - besonders die Umgebung des Menoa-Baums, während die
riesige Kiefer selbst mit unzähligen magischen Laternen behangen
wurde, die aussahen wie leuchtende Tränen. Sogar die Pflanzen und
Blumen schmückten sich für das nahende Fest mit unzähligen neuen
Blüten, wie Eragon auffiel; oft hörte er die Elfen spätabends zu
ihnen singen.
Täglich trafen hunderte von Elfen aus
anderen Städten in Ellesméra ein, denn keiner würde freiwillig die
Gedenkfeier zum Friedensschluss mit den Drachen versäumen, die nur
einmal alle hundert Jahre stattfand. Zu seinem Leidwesen merkte
Eragon, dass die Neuankömmlinge vor allem an Saphira interessiert
waren. Es kommt mir vor, als täte ich
nichts anderes, als ihre Grüße nachzuplappern,dachte er
verdrossen. Die Elfen, die wegen wichtiger Verpflichtungen nicht
kommen konnten, würden zum gleichen Zeitpunkt eigene Feste
veranstalten und die Zeremonie in Ellesméra mit der Traumsicht
verfolgen.
Eine Woche vor der großen Feier, als Eragon
und Saphira am Ende des Tages von den Felsen von Tel’naeír nach
Ellesméra zurückkehren wollten, sagte Oromis: »Ihr solltet euch
überlegen, welches Geschenk ihr zur Zeremonie mitnehmen wollt.
Falls ihr für die Herstellung nicht unvermeidlich Magie gebrauchen
müsst, schlage ich vor, dass ihr von Gramarye abseht. Man würde eure Gabe nicht
respektieren, wenn sie Produkt eines Zaubers wäre und nicht das
eurer Hände. Außerdem schlage ich vor, dass jeder von euch sich ein
eigenes Geschenk ausdenkt: eins vom Drachen und eins vom Reiter. So
ist der Brauch.«
In der Luft fragte Eragon
Saphira: Hast du schon eine
Idee?
Vielleicht. Aber bevor
ich sie dir erzähle, möchte ich erst herausfinden, ob es
funktioniert. In ihrem Geist erhaschte er einen kurzen
Blick auf ein Bild von einem blanken Felsbrocken, der aus dem
Waldboden aufragte. Dann verbarg sie das Bild rasch wieder.
Er grinste. Gibst
du mir wenigstens einen kleinen Hinweis?
Feuer. Jede Menge
Feuer.
Zurück im Baumhaus, ging Eragon im Geiste
seine Fertigkeiten durch. Am meisten weiß
ich über Ackerbau, aber das hilft mir nicht weiter. Und mit der
Magie der Elfen konkurrieren oder das Niveau ihrer Kunstwerke
erreichen kann ich mit meinen anderen Fähigkeiten auch nicht. Ihr
Talent überragt das der bedeutendsten Künstler im Imperium um
Längen.
Aber du hast etwas, das
kein anderer hat, sagte Saphira.
Was denn?
Dich. Deine Identität.
Deine Geschichte, deine Taten, deine gegenwärtige Situation. Denk
daran - dann wird aus deinem Werk etwas Einzigartiges. Was immer du
auch erschaffst, es sollte auf dem basieren, woran dir am meisten
liegt. Nur dann hat es Tiefgang und Bedeutung und nur dann werden
die Elfen es wertschätzen und auch emotional anerkennen.
Er sah sie überrascht an. Mir war nicht klar, dass du so gut über Kunst Bescheid
weißt.
Nun, ich habe ein
bisschen was gelernt, sagte sie. Dir ist wohl entfallen, dass ich kürzlich Oromis beim
Bemalen seiner Schriftrollen zugesehen habe, während du mit Glaedr
geflogen bist. Oromis hat sich dabei lang und breit über Kunst
ausgelassen.
Das hatte ich wirklich
ganz vergessen.
Saphira flog los, um ihrer Idee nachzugehen,
während Eragon vor dem offenen Wandportal im Schlafzimmer auf und
ab ging und über ihre Worte nachgrübelte. Was ist mir wichtig?, fragte er
sich.Natürlich Saphira und Arya und dass ich
ein guter Drachenreiter werde, aber wie kann ich diese Dinge so
beschreiben, dass es nicht banal klingt und schon tausendmal gesagt
wurde? Ich bewundere die Schönheit der Natur, aber auch dies haben
die Elfen schon auf unnachahmliche Weise ausgedrückt. Ellesméra
selbst ist ja förmlich ein Monument ihrer Liebe zur
Natur! Er wandte den Blick nach innen und suchte tief in
seinem Herzen nach dem, was ihm am meisten bedeutete. Was erweckte
in ihm so große Leidenschaft - ob Liebe oder Hass -, dass er darauf
brannte, es mit anderen zu teilen?
Drei Dinge kamen ihm in den Sinn: die
Verletzung, die Durza ihm zugefügt hatte, die Angst davor, eines
Tages Galbatorix gegenübertreten zu müssen, und die elfischen Epen,
in die er sich so gerne versenkte.
Ein Rausch der Erregung durchströmte Eragon,
als in seiner Vorstellung eine Geschichte Gestalt annahm, die aus
diesen drei Elementen bestand. Beschwingt eilte er zur Wendeltreppe
und stürmte hinauf, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm,
setzte sich an den Schreibtisch im Arbeitszimmer, tauchte die
Spitze der Schreibfeder in die Tinte und hielt ihn zitternd über
einen leeren Papierbogen.
Die Feder kratzte über das raue Papier, als
er die ersten Worte schrieb:
Im Königreich am
Meer,
In Bergen schimmernd blau
In Bergen schimmernd blau
Die Worte schienen wie von allein aus der
Schreibfeder zu fließen. Es kam ihm vor, als dächte er sich die
Geschichte nicht aus, sondern wäre lediglich ein Übermittler, der
sie in die Welt hinübertransportierte. Da er noch nie einen eigenen
Text verfasst hatte, war Eragon gepackt von der freudigen Erregung,
die eine neu entdeckte Leidenschaft auslöst - besonders da er nie
darauf gekommen wäre, dass es ihm Spaß machen würde, ein Barde zu
sein.
Er schrieb wie ihm Rausch, gönnte sich keine
Pause. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt, um sie vor der Tinte zu
schützen, die bei seinen ungestümen Handbewegungen von der Feder
spritzte. Seine Konzentration war so tief, dass er nichts hörte
außer den Rhythmus seines Gedichts, nichts sah außer die Worte auf
dem Papier und an nichts anderes dachte als an die Verse, die in
flammenden Zeilen hinter seinen Augen eingeprägt waren.
Nach anderthalb Stunden ließ er die
Schreibfeder aus der verkrampften Hand fallen, schob den Stuhl vom
Tisch und stand auf. Vor ihm lagen vierzehn Seiten. So viel hatte
er noch nie an einem Stück geschrieben! Eragon wusste, dass sein
Gedicht sich nicht mit den Werken der großen Elfen- und
Zwergenpoeten messen lassen konnte, doch er hoffte, dass es gut
genug war, um bei der Feier nicht belächelt zu werden.
Als Saphira zurückkam, las er ihr das
Gedicht vor. Als er fertig war, sagte sie: Oh, Eragon, du hast dich so sehr verändert, seit wir das
Palancar-Tal verlassen haben! Der unbedarfte Bauernjunge von damals
ist wirklich nicht mehr wiederzuerkennen! Der alte Eragon hätte
niemals ein so schönes Gedicht schreiben können! Ich freue mich
schon darauf zu sehen, was in den nächsten fünfzig oder hundert
Jahren aus dir wird.
Er lächelte. Falls
ich so lange lebe.
»Es ist hier und da noch ein bisschen
holprig, aber alles in allem gut gelungen«, befand Oromis, als
Eragon ihm das Gedicht vortrug.
»Dann gefällt es Euch also?«
»Es ist eine gute Beschreibung deines
gegenwärtigen Seelenzustands und liest sich flüssig herunter, aber
es ist kein Meisterwerk. Hast du das denn erwartet?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Mich überrascht allerdings, dass du es
vortragen kannst. In der alten Sprache Fiktion zu schreiben, ist eine Sache. Richtig schwierig wird
es erst, wenn man den Text rezitieren muss, denn das verlangt, dass
man fiktive Dinge - also Unwahrheiten - in der alten Sprache
erzählt, und das lässt sie ja bekanntlich nicht zu.«
»Ich kann es vortragen«, erwiderte Eragon,
»weil ich glaube, dass es die Wahrheit ist.«
»Und genau das verleiht deinen Worten ihre
immense Kraft … Ich bin beeindruckt, Eragon-Finiarel. Dein Gedicht
ist ein würdiger Beitrag für die Blutschwur-Zeremonie.« Mit spitzen
Fingern zog Oromis eine mit einem Bändchen verschnürte Schriftrolle
aus dem Gewand. »Ich möchte, dass du dich selbst und Orik mit den
neun Schutzzaubern belegst, die auf diesem Bogen geschrieben
stehen. Wie du in Sílthrim gemerkt hast, sind unsere Feste sehr
potente Angelegenheiten und nicht für Teilnehmer gedacht, deren
Konstitution schwächer als die unsere ist. Ungeschützt riskiert
man, sich im Gewirr unserer Magie zu verlieren. Das ist schon oft
passiert. Selbst mit diesen Schutzmaßnahmen muss man aufpassen,
sich nicht von den herumschwirrenden Zaubern den Kopf verdrehen zu
lassen. Gib gut Acht, denn während der Feier sind wir Elfen gerne
ein bisschen verrückt - zwar auf eine wundervolle, lustige Art,
aber nichtsdestotrotz verrückt.«
Das Blutschwur-Fest sollte drei Tage dauern.
Am ersten Abend begleiteten Eragon, Saphira und Orik Arya zum
Menoa-Baum, wo sich bereits zahllose Elfen eingefunden hatten. Ihre
schwarzen und silbernen Haare schimmerten im Licht der magischen
Laternen, die von den Ästen hingen. Islanzadi, groß und hell wie
eine Birke, stand am Fuße des Stammes auf einer Wurzel, die breit
wie ein Pfad und hoch wie ein Podest war. Blagden saß auf der
linken Schulter der Königin, während Maud, die Werkatze, hinter ihr
stand. Glaedr war da, Oromis in einem rot-schwarzen Gewand und dazu
viele weitere Elfen, die Eragon kannte, auch Lifaen und Narí… und
zu seinem Missfallen Vanir. Über ihnen funkelten die Sterne am
samtenen Abendhimmel.
»Wartet hier«, sagte Arya. Sie schob sich
durch die Menge und kehrte wenig später mit Rhunön zurück. Die
Schmiedin blinzelte wie eine Eule, als sie ihre Umgebung in
Augenschein nahm. Eragon begrüßte sie und sie nickte ihm und
Saphira zu. »Hallo, Schattentöter und Schimmerschuppe.« Dann
bemerkte sie Orik und redete ihn in der Zwergensprache an, worüber
Orik sich offenkundig freute. Endlich hatte er jemandem, mit dem er
sich in der grollenden Sprache seiner Ahnen unterhalten
konnte.
»Was hat sie gesagt?«, fragte Eragon den
Zwerg.
»Sie hat mich zu sich eingeladen und möchte
mir ihre Arbeiten zeigen und über die Schmiedekunst reden.«
Ehrfurcht lag in Oriks Blick. »Eragon, sie hat ihr Handwerk von
Fûthark persönlich gelernt, einem der legendären Führer des
Dûrgrimst Ingietum. Was würde ich dafür geben, ihn gekannt zu
haben!«
Gemeinsam warteten sie bis Schlag
Mitternacht, als Islanzadi den nackten linken Arm hob und wie mit
einem Marmorspeer zum Neumond hinaufdeutete. Auf ihrer Handfläche
erstrahlte eine helle Lichtkugel. Dann wandte sich die Königin zum
mächtigen Stamm des Menoa-Baums um und legte die Lichtkugel in eine
Mulde im Holz.
»Ist das Fest damit offiziell eröffnet?«,
fragte Eragon Arya.
»Ja.« Sie lachte. »Und es endet erst, wenn
die Lichtkugel erlischt.«
Die festlich gekleideten Elfen standen im
angrenzenden Wald und auf der Lichtung in lockeren Gruppen
beieinander. Scheinbar aus dem Nichts zauberten sie mit
fantastischen Speisen beladene Tische herbei; dem überirdisch
köstlichen Aussehen der Gerichte nach zu urteilen, mussten sie von
magiekundigen Köchen zubereitet worden sein.
Dann sangen die Elfen mit ihren hellen,
flötenartigen Stimmen ein Lied und dann noch eins und noch eins,
doch jedes war Teil einer übergeordneten Melodie, die einen
berauschenden Zauber auf die traumartige Nacht warf, die Sinne
schärfte, Hemmungen abbaute und die Gäste mit aufreizender Magie
erfüllte. Die Texte handelten von heroischen Taten und
abenteuerlichen Entdeckungsreisen in längst vergessene Länder und
von der unendlichen Schönheit der Natur. Das Pulsieren der Musik
durchdrang Eragons Seele, und er spürte, wie ihn eine wilde Hingabe
erfasste: Plötzlich wollte er nur noch sein altes Leben hinter sich
lassen und für immer durch den Zauberwald der Elfen tanzen. Neben
ihm hatte Saphira die glasigen Augen halb geschlossen und summte
das Lied wie in Trance mit.
An das, was danach geschah, sollte Eragon
sich niemals wieder so recht erinnern können. Es war wie in einem
Fiebertraum. An einiges entsann er sich mit lebendiger Klarheit -
an Momente von überschwänglicher Freude -, aber was im Einzelnen
geschah und in welcher Reihenfolge, konnte er später nicht mehr
rekonstruieren. Er wusste nicht mehr, ob es Tag war oder Nacht oder
ob er während der Feier irgendwann müde geworden war oder
geschlafen hatte …
Er erinnerte sich daran, ausgelassen getanzt
zu haben, an ein wunderschönes Elfenmädchen mit kirschroten Lippen,
an Honiggeschmack auf seiner Zunge und an Wacholderduft in der Luft
…
Er erinnerte sich an Elfen, die wie Spatzen
auf den Ästen des Menoa-Baums saßen. Sie zupften ihre goldenen
Harfen und riefen Glaedr Rätsel zu, und dann und wann zeigten sie
mit ihren schlanken Fingern zum Himmel, wo plötzlich bunte
Farbspiele aufblitzten...
Er erinnerte sich daran, mit Saphira in
einer Baumgrotte gesessen zu sein und demselben Elfenmädchen
zugehört zu haben, während es seinem andächtigen Publikum
vorsang:
Nun fliegst du hinfort,
hinfort
Über Wald und Wüste, Berg und Tal
Zu fernen Ländern hinterm Horizont.
Nun fliegst du hinfort, hinfort,
Kehrst nimmermehr zurück.
Über Wald und Wüste, Berg und Tal
Zu fernen Ländern hinterm Horizont.
Nun fliegst du hinfort, hinfort,
Kehrst nimmermehr zurück.
So fern, so
fern
Und doch so nah,
So fern, so fern
Und doch so nah.
Und doch so nah,
So fern, so fern
Und doch so nah.
Er erinnerte sich an zahllose Lieder, von
denen viele traurig und andere komisch waren - die meisten waren
beides. Er lauschte Aryas Gedicht und fand es wunderschön, ebenso
das von Islanzadi, das sehr lang war, aber genauso ergreifend. Als
die beiden ihre Werke vortrugen, kamen alle Elfen zusammen und
spitzten aufmerksam die Ohren...
Er erinnerte sich an die vielen Wunder, die
die Elfen eigens für das Fest erschaffen hatten. Die meisten hätte
er vorher für unmöglich gehalten, selbst unter Zuhilfenahme von
Magie. Puzzles und Spielzeug, Kunstobjekte und Waffen und Dinge,
deren Zweck sich ihm nicht offenbarte. Ein Elf hatte eine Glaskugel
verzaubert, sodass in ihr alle paar Sekunden eine neue Blume
erblühte. Ein anderer Elf war jahrzehntelang durch Du Weldenvarden
gewandert und hatte sich alle Geräusche der Natur eingeprägt, die
er nun von hundert weißen Lilien nachsingen ließ.
Rhunön präsentierte einen unzerbrechlichen
Schild, zwei aus Stahlfäden gesponnene Handschuhe, mit denen man
selbst mit geschmolzenem Blei gefahrlos hantieren konnte, und die
kunstvolle Skulptur eines fliegenden Zaunkönigs, der so
detailgetreu gearbeitet war, dass es schien, als wäre der Vogel
lebendig.
Oriks Geschenk war eine handtellergroße
Pyramide, die aus achtundfünfzig ineinander verschachtelten
Einzelteilen bestand.
Die Elfen waren so fasziniert von dem
Spielzeug, dass sie es immer wieder auseinander nahmen und von
neuem zusammensetzten. »Meister Langbart«, nannten sie ihn und
sagten: »Geschickte Finger lassen auf einen klugen Geist
schließen.«
Er erinnerte sich daran, dass Oromis ihn
irgendwann zur Seite nahm und von der Musik fortführte und er den
Elf fragte: »Was ist denn los?«
»Du musst einen klaren Geist bekommen.«
Oromis führte ihn zu einem umgestürzten Baumstamm. »Setz dich hier
ein paar Minuten hin. Du wirst dich gleich besser fühlen.«
»Aber ich fühle mich gut! Ich brauche keine
Pause«, protestierte Eragon.
»Das kannst du im Moment nicht beurteilen.
Bleib hier, bis du alle Verwandlungszauber aufzählen kannst, die
großen und die kleinen, dann darfst du wieder zurückkommen.
Versprich es mir...«
Er erinnerte sich daran, dass aus den Tiefen
des Waldes sonderbare dunkle Geschöpfe hervorkamen, hauptsächlich
Tiere, die von den jahrtausendealten Zaubern in Du Weldenvarden
verändert worden waren und die sich nun von der magischen Feier
angezogen fühlten wie ein Verdurstender von einem Brunnen. Die
meisten zeigten sich lediglich als glühende Augenpaare am Rand der
Lichtung. Eines der Tiere, das herauskam, war die Wölfin, die
Eragon zuvor in Gestalt der weiß gewandeten Elfe gesehen hatte. Sie
saß neben einem Holunderbusch, die dolchartigen Fänge zu einem
amüsierten Grinsen gefletscht, und schaute aus gelben Augen zu
ihnen herüber.
Doch nicht jedes dieser Geschöpfe war ein
Tier. Einige waren Elfen, die ihre ursprüngliche Gestalt aus
praktischen Überlegungen heraus oder wegen eines Schönheitsideals
verändert hatten. Ein Elf mit einem gestreiften Fell schlug einen
Purzelbaum über Eragon und tollte ausgelassen durch die Gegend.
Sein Kopf war schmal und lang und hatte Katzenohren, die Arme
hingen ihm bis zu den Knien herab und die langgliedrigen Hände
hatten innen raue Pfotenballen.
Etwas später traten zwei identisch
aussehende Elfen vor Saphira. Als sie mit fließender Anmut die
Hände zum traditionellen Gruß an die Lippen führten, sah Eragon,
dass durchsichtige Schwimmhäute ihre Finger miteinander verbanden.
»Wir kommen von weit her«, flüsterten sie. Während sie sprachen,
pulsierten an den Seiten ihrer schlanken Hälse drei längliche
Kiemen, die an den Innenseiten fleischfarben schimmerten. Ihre
Gesichter glänzten wie eingeölt, ihr pitschnass wirkendes Haar hing
auf schmale Schultern herab.
Er begegnete einem Elf in einem Panzer aus
wie bei einem Drachen überlappenden Schuppen; auf seiner
Schädeldecke saß ein knöchernes Horn und spitze Stacheln verliefen
über seinen Rücken.
Und er begegnete anderen Wesen, die man
überhaupt nicht mehr als Elfen erkannte: Es gab einige, deren
Konturen sich wellenförmig verzerrten und verschwammen, als
befänden sie sich unter Wasser. Andere konnte man, wenn sie
stillstanden, nicht von Bäumen unterscheiden. Dann gab es groß
gewachsene Elfen mit vollkommen schwarzen Augen - ohne jedes Weiß
-, die so erschreckend schön waren, dass Eragon Angst bekam, und
wenn sie zufällig etwas berührten, glitten ihre Gliedmaßen durch
die Gegenstände hindurch, als bestünden sie aus Luft.
Das bemerkenswerteste Beispiel für diese
Phänomene war jedoch der Menoa-Baum, mit dem sich einst die Elfe
Linnëa vereinigt hatte. Der Baum schien erquickt von den
Aktivitäten auf der Lichtung. Das Laub regte sich, obwohl kein Wind
wehte, und ab und zu vernahm man das Knarren der Äste im Takt der
Musik. Der ganze Baum verströmte eine gütige Aura des Wohlwollens,
das sich auf jeden, der in der Nähe stand, übertrug.
Und er erinnerte sich an zwei
Schmerzanfälle, an das Schreien und Stöhnen in der Dunkelheit,
während die Elfen achtlos herumtollten und nur Saphira für ihn da
war …
Am dritten Tag der Feier trug er den Elfen
sein Gedicht vor. Er erhob sich und sagte: »Ich bin kein Schmied,
ich kann weder schnitzen noch töpfern oder malen. Und mit eurer
Zauberkunst kann ich erst recht nicht konkurrieren. Deshalb bleiben
mir nur meine eigenen Erlebnisse, die ich in eine Geschichte
umzusetzen versucht habe, obwohl ich natürlich auch kein Barde
bin.« Dann, in der Art, wie Brom es in Carvahall getan hatte, sang
Eragon:
Im Königreich am
Meer,
In Bergen schimmernd blau,
Am letzten kalten Wintertage
Ward geboren einer, dessen Los es war,
In Bergen schimmernd blau,
Am letzten kalten Wintertage
Ward geboren einer, dessen Los es war,
Durzas Dämonen zu
töten,
Im Schattenreich.
Im Schattenreich.
Behütet von Guten und
Weisen,
Unter Eichen alt wie die Zeit,
Jagt er das Wild und ringt mit Bären,
Lernt jeden Kniff, übt sein Geschick,
Unter Eichen alt wie die Zeit,
Jagt er das Wild und ringt mit Bären,
Lernt jeden Kniff, übt sein Geschick,
Um Durzas Dämonen zu
töten,
Im Schattenreich.
Im Schattenreich.
Den Dieb in Schwarz zu
finden,
Der Böses nur im Schilde führt,
Ihn jagen und bekriegen,
Mit Stock und Stein und Mut und List,
Der Böses nur im Schilde führt,
Ihn jagen und bekriegen,
Mit Stock und Stein und Mut und List,
Um Durzas Dämonen zu
töten,
Im Schattenreich.
Im Schattenreich.
Die Jahre fliegen
geschwind wie der Wind,
Der Junge nun zum Manne reift,
Der Junge nun zum Manne reift,
In ihm lodert Zorn so
heiß,
Die Ungeduld des Jünglings im Blut.
Die Ungeduld des Jünglings im Blut.
Sodann begegnet er dem
holden Weib,
So schön und klug und stark und weich,
Ihre Stirn erstrahlt in Gëdas Schein,
Der Lichterglanz so hell und rein.
So schön und klug und stark und weich,
Ihre Stirn erstrahlt in Gëdas Schein,
Der Lichterglanz so hell und rein.
In ihren Augen
schimmernd blau,
In diesen tiefen Brunnen,
Sieht er die Zukunft lockend schön:
Gemeinsam leben ohne Angst und Furcht
In diesen tiefen Brunnen,
Sieht er die Zukunft lockend schön:
Gemeinsam leben ohne Angst und Furcht
Vor Durzas
Dämonen,
Im Schattenreich.
Im Schattenreich.
So erzählte Eragon weiter, wie der Mann in
Durzas Reich auszog, ihn fand und gegen ihn kämpfte. Doch obwohl er
am Ende obsiegte, hielt der Mann den letzten, tödlichen Schlag
zurück, denn jetzt, da er seinen Feind besiegt hatte, teilte er
nicht mehr die Angst der Sterblichen. Er musste Durza nicht mehr
töten. So nahm der Mann sein Schwert, kehrte nach Hause zurück und
heiratete an einem lauen Sommerabend seine Angebetete. Mit ihr
verbrachte er viele glückliche Jahre, bis sein Bart lang und weiß
war. Aber, o weh:
Im Dunkel vor dem
Morgengrau
Ins Schlafgemach des Mannes
Der Dämon schleicht und schaut
Herab auf seinen alten Feind.
Ins Schlafgemach des Mannes
Der Dämon schleicht und schaut
Herab auf seinen alten Feind.
Im Bette liegend,
schlägt der Mann
Die Augen auf und blickt
Ins kalte Antlitz von Gevatter Tod,
König der ewigen Nacht.
Die Augen auf und blickt
Ins kalte Antlitz von Gevatter Tod,
König der ewigen Nacht.
Ruhe erfüllt des
Mannes
Altes Herz, denn vor langem schon
Verlor er die Angst vor dem Dämon,
Und haucht den letzten Hauch.
Altes Herz, denn vor langem schon
Verlor er die Angst vor dem Dämon,
Und haucht den letzten Hauch.
Sanft wie die
Morgenbrise
Beugt sich der dunkle Gast,
Nimmt den guten, klaren Geist des Mannes,
Und friedvoll ziehen sie hinfort und leben
Beugt sich der dunkle Gast,
Nimmt den guten, klaren Geist des Mannes,
Und friedvoll ziehen sie hinfort und leben
In
Ewigkeit
Im Schattenreich.
Im Schattenreich.
Eragon verstummte, sich der auf ihm ruhenden
Blicke bewusst, zog den Kopf ein und setzte sich rasch. Es machte
ihn verlegen, so viel von sich preisgegeben zu haben.
Der Elfenfürst, Däthedr, ergriff als Erster
das Wort: »Du unterschätzt dich, Schattentöter. Es scheint, als
hättest du in dir ein neues Talent entdeckt.«
Islanzadi hob die blasse Hand. »Wir werden
dein Werk in die Bibliothek der Tialdarí-Halle aufnehmen,
Eragon-Finiarel, damit sich jeder, der möchte, daran erfreuen kann.
Obwohl dein Gedicht ein Gleichnis ist, glaube ich, dass viele von
uns nun besser verstehen, welche Unbilden dir nach Saphiras Geburt
widerfahren sind. Schließlich sind wir mitverantwortlich für deine
entbehrungsreiche Odyssee! Trage es uns bitte noch einmal vor,
damit wir weiter darüber nachdenken können.«
Zufrieden verneigte sich Eragon und folgte
ihrem Wunsch. Danach war Saphira an der Reihe, den Elfen ihr
Geschenk zu präsentieren. Sie flog ins Dunkel der Nacht und kehrte
wenig später mit einem schwarzen Felsbrocken in den Klauen zurück,
der dreimal so groß war wie ein erwachsener Mann. Sie landete auf
den Hinterbeinen und stellte den Fels aufrecht auf die Wiese, damit
jeder einen guten Blick darauf hatte. Der glänzende Stein war
geschmolzen und zu einer kunstvollen Felsspirale geformt worden,
deren Ringe sich umeinander wanden wie erstarrte Wellen. Sie waren
derart miteinander verschlungen, dass das Auge Mühe hatte, einem
Spiralring von oben nach unten zu folgen, sondern eher von einem
zum nächsten sprang.
Da er die Skulptur zum ersten Mal sah,
betrachtete Eragon sie ebenso interessiert wie die
Elfen. Wie hast du das
gemacht?
Saphiras Augen blitzten
amüsiert. Indem ich den geschmolzenen
Fels abgeschleckt habe. Dann beugte sie sich vor und spie
Feuer auf die Skulptur, badete sie in einer goldenen Flammensäule,
die weit in den Nachthimmel emporschoss und nach den Sternen zu
greifen schien. Als Saphira das Maul zuklappte, glühten die
hauchfeinen Konturen des Felsens kirschrot, während in den Ritzen
und Vertiefungen des Steins kleine goldene Flammen flackerten. In
dem hypnotischen Licht schienen die Spiralringe umeinander zu
kreisen.
Die Elfen stießen begeisterte Rufe aus,
klatschten in die Hände und tanzten um die Skulptur herum. Einer
rief: »Hervorragende Arbeit, Schimmerschuppe!«
Es ist
wunderschön, sagte Eragon.
Dann enthüllte Glaedr sein Geschenk: eine
riesige Tafel aus roter Eiche, die er mit einer Klauenspitze so
zurechtgeschnitzt hatte, dass sie aussah wie Ellesméra aus der Luft
betrachtet.
Als Nächstes war Oromis an der Reihe: Sein
Geschenk war die Schriftrolle, an der Eragon ihn während der
Unterrichtsstunden so oft hatte arbeiten sehen. Auf der oberen
Hälfte stand der kunstvoll aufgetragene Titel »Die Reisen des
Seefahrers Vestarí«, während die untere Hälfte eine wunderschöne,
meisterhaft gemalte Landschaft zierte.
Danach nahm Arya Eragon bei der Hand und
ging mit ihm auf den Menoa-Baum zu. »Schau, die Lichtkugel
verblasst allmählich. Uns bleiben nur noch wenige Stunden, bis wir
im Morgengrauen wieder in die kalte Welt der Vernunft zurückkehren
müssen.«
Die Elfen versammelten sich um die riesige
Zauberkiefer. Ihre Gesichter strahlten vor Freude. Würdevoll trat
Islanzadi aus der Menge heraus und stieg wieder auf die breite
Wurzel, die ihr als Podium diente. Von dort schaute sie auf ihre
Untertanen herab: »Gemäß unserer Tradition, so wie Königin
Tarmunora, der erste Eragon und der weiße Drache, dessen Name in
allen Sprachen unaussprechlich ist, es festgelegt haben, sind wir
zusammengekommen, um mit Musik und Tanz und den Früchten unseres
Schaffens den Blutschwur zu ehren. Als vor hundert Jahren diese
Zeremonie zuletzt stattfand, haben wir uns in einer verzweifelten
Lage befunden. Seither hat sich durch die Anstrengungen, die wir,
die Zwerge und die Varden unternommen haben, vieles gebessert, doch
noch immer liegt der schwarze Schatten der Wyrdfell über Alagaësia, und wir müssen noch
immer mit der Schande leben, die Drachen im Stich gelassen zu
haben.
Von allen alten Reitern und Drachen sind nur
Oromis und Glaedr übrig geblieben. Brom und viele andere sind im
vergangenen Jahrhundert gestorben. Doch in Gestalt von Eragon und
Saphira haben wir neue Hoffnung bekommen, und es ist nur
angemessen, dass die beiden zugegen sind, wenn wir den Pakt
zwischen unseren Völkern erneuern.«
Auf ein Zeichen der Königin räumten die
Elfen den Platz am Fuße des Menoa-Baums. Sie bauten einen Kreis aus
in den Boden gesteckten Laternenpfählen, während sich am Rande
einer dicken Wurzel Musiker mit Flöten, Harfen und Trommeln
versammelten. Arya führte Eragon an den Rand des Kreises, wo er
sich zwischen sie und Oromis ins Gras setzte, während Saphira und
Glaedr sich links und rechts neben sie legten. Die beiden Drachen
sahen aus wie edelsteinbesetzte Erdhügel.
Zu Eragon und Saphira gewandt, sagte Oromis:
»Schaut aufmerksam zu, denn dieses Ritual ist der wichtigste
Bestandteil eures Vermächtnisses.«
Als alle Platz genommen hatten, traten zwei
junge Elfendamen in die Mitte des Kreises und stellten sich Rücken
an Rücken auf. Die beiden waren wunderschön und glichen sich wie
ein Ei dem anderen, bis auf ihr Haar: Das der einen war schwarz wie
die Nacht, das der anderen schimmerte silbern.
»Die Hüterinnen, Iduna und Nëya«, flüsterte
Oromis.
Auf Islanzadis Schulter krächzte Blagden:
»Wyrda!«
Die beiden Elfen hoben die Hände an die
Halsbroschen, öffneten sie und ließen ihre weißen Gewänder zu Boden
gleiten. Darunter trugen sie nichts außer einer schillernden
Drachentätowierung, die den gesamten Körper bedeckte. Die
Tätowierung begann mit dem Drachenschwanz, der sich um Idunas
linken Fußknöchel wand und über Wade, Schenkel und Oberkörper
aufstieg, sich über Nëyas Rücken fortsetzte und mit dem Drachenkopf
auf ihrer Brust endete. Jede einzelne Schuppe des Drachen hatte
eine andere Farbe. Die leuchtenden Schattierungen ließen die
Tätowierung schillern wie einen Regenbogen.
Die beiden Elfen schlangen Hände und Arme
umeinander, sodass der Drache wie aus einem Stück aussah und sich
lückenlos von einem Körper zum anderen fortsetzte. Dann hob jede
einen nackten Fuß und rammte ihn mit einem dumpfen Schlag auf den
Boden.
Noch ein Schlag.
Beim dritten Mal schlugen die Musiker auf
ihre Trommeln, beim vierten Schlag glitten die Finger der
Harfenspieler über die Saiten ihrer goldenen Instrumente und im
nächsten Moment fielen die Flöten in die pulsierende Melodie
ein.
Iduna und Nëya fingen an zu tanzen, anfangs
langsam, dann immer schneller. Sie stampften die Füße rhythmisch
auf den Boden und wanden sich in schlangenhaften Bewegungen
umeinander, bis es aussah, als würden nicht sie sich bewegen,
sondern der Drache auf ihrer Haut, der in endlosen Kreisen um sie
herumflog.
Dann begannen die beiden, zur Musik zu
singen, und stießen zum stampfenden Rhythmus gellende Rufe aus. Die
Worte waren Teil eines derart verschlungenen Zaubers, dass Eragon
kaum etwas verstand. Wie der anschwellende Wind vor einem Sturm, so
begleiteten die anderen Elfen die Beschwörung, sangen mit einem
Mund, mit nur einem Geist und nur einem Ziel. Eragon kannte den
Text nicht, merkte aber, dass er trotzdem mit einstimmte, gepackt
von der unentrinnbaren Kraft der Melodie. Auch Saphiras und Glaedrs
Stimmen gesellten sich zu dem Gesang. Das tiefe Summen aus ihren
Kehlen war so kräftig, dass Eragon den Ton in den Knochen spürte
und eine Gänsehaut bekam.
Iduna und Nëya wirbelten immer schneller
umeinander, bis ihre Füße über den Boden zu fliegen schienen, ihre
wallenden Haare im Wind flatterten und ihre Körper schweißnass
glänzten. Die beiden Elfen tanzten in einem überirdischen Tempo und
die Musik erreichte einen fiebrigen Höhepunkt. Dann flammte über
der Drachentätowierung ein Licht auf, vom Kopf bis hinab zum
Schwanz, und der Drache regte sich. Zuerst dachte Eragon, seine
Augen würden ihn trügen, bis das Geschöpf sich bewegte, die Flügel
hob und die Klauen zusammenballte.
Eine Flammenexplosion schoss aus seinen
Nüstern und er richtete sich auf, löste sich aus der Haut der
beiden Elfen, flog empor und verharrte in einiger Höhe in der Luft.
Die Schwanzspitze blieb mit den beiden Tänzerinnen am Boden
verbunden, wie eine glühende Nabelschnur. Das riesige Wesen starrte
zum schwarzen Mond auf und stieß ein gewaltiges, aus den Anfängen
der Zeit stammendes Brüllen aus, dann drehte es sich um und blickte
auf die versammelten Elfen herab.
Als der Blick des Drachen auf Eragon fiel,
wusste dieser, dass das Geschöpf keine Erscheinung und auch kein
Trugbild war, sondern ein lebendiges, bewusstes Wesen, das mit
magischer Kraft am Leben gehalten wurde. Saphiras und Glaedrs
Summen wurde so laut, dass Eragon nichts anderes mehr hörte. Über
ihnen flog der Urvater des Drachenvolkes über die Elfen hinweg und
streifte sie mit einem geisterhaften Flügel. Er hielt vor Eragon
inne und richtete seinen Schwindel erregenden Blick auf ihn.
Getrieben von einem plötzlichen Impuls, hob Eragon den rechten Arm
und zeigte dem Drachen das kribbelnde, silberne Mal auf seiner
Handfläche, die Gedwëy
Ignasia.
In seinem Geist hallte eine dröhnende Stimme
wider: Das ist unsere Gabe an dich, damit
du tun kannst, was man von dir erwartet.
Der Drache neigte den Kopf herab und
berührte mit der Schnauze Eragons schimmernde Handfläche. Ein Funke
sprang zwischen ihnen hin und her, und Eragon erstarrte, als eine
glühende Hitzewelle seinen Körper durchströmte und sein Inneres
verzehrte. In seinem Blickfeld explodierten rote und schwarze
Blitze und die Narbe auf seinem Rücken brannte wie unter glühendem
Eisen. Um sich in Sicherheit zu bringen, ließ er sich tief in sein
Inneres hineinfallen, wo die Dunkelheit nach ihm griff und er keine
Kraft mehr besaß, ihr zu widerstehen.
Als Letztes hörte er die Drachenstimme
sagen: Das ist unsere Gabe an
dich.